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Von „Panem et circenses“ zum „Public Viewing“

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22.6.2012, aktualisiert 2.7.2012

Panem et circenses, Brot und Zirkusspiele
Der Ausdruck aus dem 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung stammt vom römischen Dichter Juvenal, der damit das römische Volk kritisiert hatte. Früher habe es die Macht an Feldherren verliehen und Beamte gewählt, nun sei es ängstlich und entpolitisiert geworden und wolle nur noch zwei Dinge: Brot und Spiele. Zur Zeit von Juvenil hatte Kaiser Trajan Massenunterhaltungen gepflegt; er war der Meinung, „dass das römische Volk insbesondere durch zwei Dinge, Getreide und Schauspiele, sich in Bann halten lasse“ (Wikipedia).

Peter Sloterdijk schrieb dazu: „Das römische Brot- und Spiele-System war ja nicht weniger gewesen als die erste Ausgestaltung dessen, was man seit dem 20. Jahrhundert als ‚Massenkultur’ bezeichnet. Es symbolisierte die Wende von der gravitätischen Senatorenrepublik zum postrepublikanischen Theaterstaat mit einem kaiserlichen Mimen im Zentrum“ (Sloterdijk 8.11.2010). Nach Sloterdijk gelang dieses „Entpolitisierungskunststück“, weil „halbwegs brauchbare Ersatzangebote“ angeboten wurden: „Den Caesaren gelang es noch scheinbar spielend, Bürgerausschaltung und Bürgerbefriedigung miteinander zu verbinden“ (Ebenda).

Diese „Entpolitisierungsfunktion“ hat am Anfang des 21. Jahrhunderts, also zwei Jahrtausende später zu einem guten Teil der internationale Sportsektor übernommen: Dies dient allerdings nur scheinbar der Entpolitisierung.

Public Viewing
Das Phänomen „Brot und Spiele“ wurde im eigentlichen Sinn wiederbelebt bei den Olympischen Sommerspielen 1936 in Berlin, wo vom NS-Regime die Massen mobilisiert wurden. Aufgenommen wurde der Gedanke spätestens seit der Ägide des IOC-Präsidenten Juan Antonio Samaranch und den Fifa-Präsidenten Joao Havelange und Sepp Blatter in den 70er und 80er Jahren. Aktuell zeigt sich der alte „Brot-und-Spiele“-Gedanke an der Fußball-Europameisterschaft 2012 und den Olympischen Sommerspielen 2012 in London.

Die Sport-Funktionäre (oder besser: Sport-Paten) der Uefa, der Fifa und des IOC lassen zu Anfang des 21. Jahrhunderts die Sport-Events global und ganzjährig von Januar bis Dezember ablaufen. Dazu gehören konkrete Groß-Sportevents wie Olympische Spiele und Fußball-Welt- und Europameisterschaften. Um die Massen noch umfassender zu erreichen, wurden neue Formen der Teilnahme eingeführt. Brot und Spiele heute sind u. a.: gemeinsames Fernsehen, Public Viewing, Fan-Meile.

Der Begriff Public Viewing wurde bei der Fußball-WM 2006 in Deutschland eingeführt: Deren Organisationskomitee sowie der Sportrechtevermarkter Infront (dessen Chef ist Philippe Blatter, der Neffe des Fifa-Präsidenten Sepp Blatter) beantragten bei der Fifa die Erlaubnis dazu. Überflüssig zu erwähnen, dass die internationalen Sportverbände von den Veranstaltern auch hier kräftig abkassieren.

Der Begriff aus dem Englischen bedeutet u. a. „öffentliche Totenschau“ und ist im Sport auch als „Rudelschauen“ bekannt, wobei die Rudel der Sportfans bis zu einer Million groß sein können. Public Viewing kann nach Auskunft des Psychologen Steffen Fliegel Suchtcharakter haben: „Je intensiver eine Person Glücksgefühle beim Public Viewing erlebt, desto wahrscheinlicher ist es, dass diese Person wieder daran teilnehmen wird“ (SZ 12.6.2012).
88 Quadratmeter groß und zehn Millionen Euro teuer war die LED-Leinwand, die auf der Münchner Theresienwiese die Fußball-EM 2012 zeigte; die im Olympiastadion war sogar 144 Quadratmeter groß (Fuchs 12.5.2012).
Zum Public Viewing gehören auch die Fan-Meilen: Tausende von Fans stehen vor Großbildleinwänden. Auf der größten, der Berliner Fanmeile an der Straße des 17. Juni, konnten sich bei der WM 2006 bis zu 900.000 Menschen versammeln. Bei der Fußball-EM 2012 kamen in Berlin zum Spiel Deutschland-Niederlande 400.000 Fans.

Bei der EM 2012 entrollten im Juni 2012 in der Kölner Lanxess-Arena Neonazis die Reichskriegsflagge. „Beim Erklingen der Nationalhymne reckten die Kahlrasierten dann auch ihren rechten Arm in die Höhe“ (Jüttner, Steinecke 22.6.2012). Der Sportsoziologe Gunter A. Pilz konstatierte ein Ausweichen der rechtsradikalen Fans vom Stadion zum Pubic Viewing: „Parallel können sie das Massenereignis nutzen und ihre nationalsozialistischen Neigungen als gesunden Patriotismus verkaufen, indem sie vorgeben,  ja bloß für ‚ihre‘ Mannschaft zu sein“ (Ebenda).
Eigentlich ist die Fan-Meile ein Plagiat des Reichssportfeldes, Berlin 1936 (Link).

Das Sport-Lemming-Syndrom
Die Intentionen und das Geschäft der Sport-Paten gingen auch bei der Fußball-EM 2012 auf. Ungeachtet der dubiosen Uefa-Präsidentenwahl (von Michel Platini, des Zöglings von Sepp Blatter, vgl. Kistner 2012, S. 201ff), der zwielichtigen Vergabemodalitäten der EM an Polen/Ukraine (kein offizielles Thema) und der politischen Verhältnisse in der Ukraine (kein Thema mehr), erfreuen sich die Fußballspiele einer irrwitzigen Akzeptanz.

Über 22 Millionen Zuschauer in Deutschland (Marktanteil 69,3 Prozent) beim Spiel sahen das Spiel Deutschland-Portugal; über 27 Millionen Zuschauer (74,9 Prozent Marktanteil) das Spiel Deutschland-Niederlande, über 27 Millionen Zuschauer das Spiel Deutschland – Dänemark (jeweils noch ohne die Public-Viewing-Fans; focus.de 10.6.2012; spiegelonline 154.6.2012; 27,65 Millionen, in SZ 19.6.2012). Das sind Zustimmungsraten, wie man sie sonst nur aus totalitären Systemen kennt Und wer als Gastronom keine Fernseher aufstellte (und entsprechend Gebühren abzuführen musste), hatte ein leeres Lokal. Der Zwang zur Sport-Konformität wird allumfassend

Fazit: Brot oder Spiele
– Die Wettkämpfe der Länder gegeneinander gewinnen zunehmend an Bedeutung und wecken Nationalgefühle , Animositäten und Aggressionen: also das genaue Gegenteil von dem, was der internationale Sport verspricht, nämlich Völkerverständigung, Frieden, Freundschaft.
– Die Fans sind in den jeweiligen Nationalfarben bemalt und wissen noch nicht, dass sie und ihre Nachkommen die nächsten Jahrzehnte dieses Sportevent abbezahlen müssen.
– Aus Fußball-Fans werden oft übergangslos gewaltbereite Hooligans, siehe russische und polnische Hooligans bei der EM 2012 (SZ 15.6.2012).
– Die Sport-Paten haben eine sich selbst feiernde, dekadente Event-Gesellschaft geschaffen, in der die drängenden ökonomischen, ökologischen und sozialen Probleme verdrängt werden.
– Die feudale Oberschicht lässt es in VIP-Logen krachen. Die unteren Schichten werden mit bunten Fernsehbildern abgespeist und sind augenscheinlich damit zufrieden.
– Bald wird es heißen: Brot oder Spiele. Die Fußball-Europameisterschaft 2012 kostete Polen 22 Milliarden Euro, die Ukraine 11 Milliarden Euro (Ashelm 9.6.2012). Die Olympischen Sommerspiele 2012 in London werden mindestens 24 Milliarden Pfund kosten (Hervey, Chennaoui 28.1.2012; Oliver 27.1.2012).
– Der Film The Hunger Games lässt grüßen…

Vergleiche auch: im Kritischen Olympischen Lexikon: Elite; Olympische Sommerspiele 1936; Sport-Funktionäre
und: Die Sport-Sender; 12. Sportbericht der Bundesregierung; Der rechte Sport-Staat (folgt)

Quellen:
14 Haftstrafen, in SZ 15.6.2012
22 Millionen sahen das Deutschlandspiel in der ARD, in focus.de 10.6.2012
Ashelm, Michael Das Millionenspiel mit dem Fußball, in faz.net 9.6.2012
Fuchs, Florian, Bastian Schweinsteiger – überlebensgroß, in SZ 12.5.2012
Hervey, Lia, Chennaoui, Orla, Olympics over budget, in skysports.com 28.1.2012
Jüttner, Julia, Steinecke, Almut, Kölner Fans müssen draußen bleiben, in spiegelonline 22.6.2012
Kistner, Thomas, Fifa-Mafia, Die schmutzigen Geschäfte mit dem Weltfußball, München 2012
Oliver, Amy, Cost of Olympics to spiral to 24 billion pounds, in dailymail.co.uk 27.1.2012
Russen bangen um EM-Teilnahme in SZ 15.6.2012
Sloterdijk, Peter, Der verletzte Stolz, in spiegelonline 8.11.2010
The Hunger Games, Film von Gary Ross (2012), Buch: Suzanne Collins
Über 27 Millionen sehen deutschen Sieg im ZDF, in spiegelonline 14.6.2012
„Wie eine Beerdigung“, in SZ 12.6.2012
Wikipedia