22.2.2014, aktualisiert 18.3.2014
Vorbemerkung
„Nahrungsergänzungsmittel gelten als legales Doping. Die Sportler sind verrückt danach. Manche verbringen ganze Nächte im Internet, um die neuesten Gemische zu bestellen. Laut einer Studie der Sporthochschule Köln nehmen 96 Prozent der deutschen Olympia-Athleten Nahrungsergänzungsmittel zu sich, Vitamine, Mineralien, hochdosierte Proteine“ (Eberle u.a. 5.8.2013).
Sotschi 2014: Deutsche Biathletin gedopt
Die Biathletin Evi Sachenbacher-Stehle (33) wurde mit A- und B-Probe positiv auf das Stimulans Methylhexanamin getestet. Nun soll die Ursache im Fall Sachenbacher-Stehle angeblich „verunreinigte Energieriegel“ gewesen sein. Das Landeskriminalamt Bayern hat die Privatwohnung von Sachenbacher-Stehle und den Olympiastützpunkt Ruhpolding am 21.2.2014 durchsucht; in Ruhpolding wurden ohne nähere Angaben „Nahrungsergänzungsmittel“ gefunden (spiegelonline 22.2.2014a). Zusätzlich wurde Sachenbacher-Stehles Hauptwohnsitz in Österreich durchsucht (Aumüller, Kistner 24.2.2014).
Der von Sachenbacher-Stehle angegebene „Mentaltrainer“ aus Süddeutschland warb bis vor ihrem positiven Test auf seiner Internetseite auch mit ihr: Nun ist ihr Name gelöscht (Ebenda). Angeblich handelt es sich um den Heilpraktiker Stefan Saxinger aus Bad Tölz, der Mittel der Formen Platinum Europa, LaVita und StemTech (Peschke 27.2.2014).
Methylhexanamin
„Da soll sich einer auskennen. Die Substanz Methylhexanamin, so klärt die Nationale Anti-Doping-Agentur (Nada) auf, sei auch unter anderen Namen zu finden. Als da wären: 1,3-Dimethylamylamin; Dimethylpentylamin; Geranamin; Forthan; Floradren; Geraniumöl; Geraniumwurzelextrakt; 4-Methyl-2-hexanamin; 4-Methyl-2-hexylamin; 2-Amino-4-methylhexan; Pentylamin. Auch deshalb, weil das Geschäft mit der Nahrung für Hobby- wie Leistungssportler so komplex, so kompliziert, aber auch so lukrativ ist, hatte die Nada die Sportler immer wieder auf die Gefahr von „verunreinigten Nahrungsergänzungsmitteln“ hingewiesen. Stoffe wie das bei Evi Sachenbacher-Stehle gefundene Methylhexanamin werden den Ergänzungsmitteln oft illegal zugesetzt und nicht auf Beipackzetteln deklariert“ (SZ 24.2.2014).
„Methylhexanamin gehört zur Gruppe der Stimulanzien; dabei handelt es sich um Stoffe, die kurz vorm Wettkampf als Aufputschmittel eingenommen werden. Es ist häufig in sogenannten „Prä-Workout-Produkten“ enthalten und soll die Leistung vorübergehend steigern “ (spiegelonline 22.2.2014b).
Das Mittel ist „ausschließlich im Wettkampf verboten. (…) Die Nada warnt deshalb seit Jahren generell vor der Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln im Sport“ (br.de 22.2.2014). Diese Nahrungsergänzungsmittel stehen auch auf der „Kölner Liste“ des Kölner Doping-Analyselabors (Kistner 22.2.2014). Der Anstieg der Dopingfälle mit Metyhlhexanamin ist beträchtlich: 2008-1 Dopingfall, 2009-31, 2010-123, 2011-283, 2012-320: Das waren in 2012 bereits 45 Prozent aller Dopingfälle mit Stimulanzien (spiegelonline 22.2.2014b).
„Die Zahl der Dopingfälle mit Methylhexanamin sei in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen, schreibt die Deutsche Sporthochschule Köln. .. Im Jahr 2012 gab es 320 Dopingfälle mit Methylhexanamin – 45 Prozent aller Dopingbefunde mit Stimulanzien“ (spiegelonline 22.2.2014b). Merkwürdiger „Zufall“: Während Sotschi 2014 wurden gleich drei Athleten mit Methylhexamin erwischt: Neben der deutschen Biathletin der italienische Bobfahrer William Frullani und der lettische Eishockeyspieler Vitalijs Pavlovs (Aumüller, Kistner 24.2.2014).
Stellungnahmen
Der Generaldirektor des DOSB, Michael Vesper, gab an, am 20.2. gegen 22.30 Kenntnis von der Causa Sachenbacher-Stehle bekommen zu haben. „Michael Vesper hat schon einmal frischer ausgesehen als an diesem Abend“ (Ahrens 21.2.2014b). Vesper spielte den Fall herunter: „Leute, wir sprechen hier nicht über Heroin, Epo oder sonst was“ (Aumüller, Kistner 24.2.2014). – „Auch war den DOSB-Oberen sehr daran gelegen, den Fall als unvorstellbare Naivität einer erfahrenen Athletin darzustellen, die trotz der jahrelangen Warnungen von Verband, Anti-Doping-Agenturen und Laboren Nahrungsergänzungsmittel zu sich genommen habe“ (Ebenda).
Die Vorsitzende des Sportausschusses des Deutschen Bundestages, Dagmar Freitag, „erinnert auch an Vespers Aussage, dass der Olympiatross in Sotschi sauber an den Start gehe: Nominiert sei nur, wer nachweislich kontrolliert worden sei“ (Kistner 21.2.2014). Freitag: „Wer aus negativen Tests den einzigen Rückschluss zieht, dass die betreffenden Athleten sauber sind, hat das Doping-System nicht begriffen“ (Ebenda). Der Heidelberger Molekularbiologe Werner Franke: „Es kann Dummheit von ihr gewesen sein. Aber der, der einen Vorsatz ausschließt, ist mindestens genauso dumm. Das betreffende Mittel hat ganz klar eine leistungssteigernde Wirkung, gerade für Biathleten, da es vor allem beim Schießen Vorteile bringt“ (Gödecke 22.2.2014). – „Mentaltrainer und gleichzeitig Ernährungsberater, wenn ich das schon höre. Wer mit so einem Guru zusammenarbeitet, gehört schon wegen Dummheit gesperrt“ (Aumüller, Kistner 24.2.2014). Der Nürnberger Dopingexperte Fritz Sörgel war über die versprochene „Erhöhung von adulten Stammzellen im Körper“ durch einfache Algenextrakte wie der Substanz StemEnhance mehr als verwundert (Aumüller, Kistner 1.3.2014).
Der ARD-Dopingexperte Hajo Seppelt äußerte, die Möglichkeit, dass Sachenbacher-Stehle bewusst gedopt habe, finde in der Öffentlichkeit zu wenig Beachtung. Es sei genauso gut möglich dass sie sich das Aufputschmittel bewusst zugeführt hat (Küpper 22.2.2014). Dagegen ihr Anwalt Marc Heinkelein: „Wir reden hier nicht von der Kategorie knallhartes Doping, sondern über Nahrungsergänzungsmittel“ (spiegelonline 23.2.2014).
Kann es nicht sein, dass die euphemistische Bezeichnung „Nahrungsergänzungsmittel“ eine von mehreren Beteiligten im Vorfeld ausgedachte Notformel war, falls jemand auffliegt?
Zur Vorgeschichte
Bereits bei den Olympischen Winterspielen 2006 in Turin fiel Sachenbacher-Stehle bei Dopingproben durch den hohen Hämoglobinwert auf und wurde vom IOC mit fünf Tagen „Schutzsperre“ belegt. Die Verteidigungslinie: Angeblich handelte es sich bei ihr um eine geburtsbedingte Anomalie. Der renommierte Gießener Sportmediziner Paul Nowacki, der zu der Zeit Anti-Doping-Beauftragter des deutschen Skiverbandes (DSV) war und die Ursache „Blutanomalie“ anzweifelte, wurde zum Rücktritt gedrängt (Ahrens 21.2.2014a). Der DSV wollte bei der FIS eine Ausnahmegenehmigung für Sachenbacher-Stehle erreichen, die jedoch von der FIS verweigert wurde.
Peinlich: „Besonders der damalige Chef des Deutschen Skiverbandes, Alfons Hörmann, hatte sich immer wieder für Sachenbacher-Stehle eingesetzt. Für ihn ist die Situation bei seinen ersten Olympischen Spielen als oberster deutscher Sportfunktionär daher doppelt unangenehm“ (Ebenda; Hörmann ist seit Dezember 2013 DOSB-Präsident).
Der aktuelle Langlauf- und ehemalige Biathlon-Männer-Bundestrainer, Frank Ullrich, äußerte: „Das ist für uns alle ein Schock. Ich kann nur hoffen, dass das noch eine Wende zum Guten nimmt“ (spiegelonline 21.2.2104; Kistner 22.2.2014). Warum es für Ullrich ein Schock sein sollte, ist dies schwer zu verstehen. „Erinnert sei hier an den Fall des DDR-Biathlontrainers Frank Ullrich aus Suhl, der heute Skilanglauf-Bundestrainer ist. Im Jahr 2009 kam eine vom Deutschen Skiverband eigens eingesetzte Untersuchungskommission zu dem Ergebnis: Wenn Ullrich auch heute daran festhalte, dass es sich damals im DDR-Biathlon lediglich um legale Mittel gehandelt habe, gehe die Kommission von einem ‚unbewusst gesteuerten Verdrängungsmechanismus‘ aus. Das Gremium, das unter Vorsitz des Juristen und Vizepräsidenten des Deutschen Skiverbandes Franz Steinle (heute Präsident des DSV als Nachfolger von Hörmann; WZ) stand, war entgegen der Empfehlung des DOSB an seine Verbände, in solchen Fällen die zentrale Dopingkommission des DOSB einzuschalten, verbandsintern und eigenmächtig zu dem Ergebnis gelangt, an den Skiverband die Empfehlung zu geben, keine arbeits- oder dienstrechtlichen Schritte gegen Trainer Frank Ullrich einzuleiten. Sollte Hörmann so weiter agieren, dann dürfte er das Erbe von Thomas Bach in dessen Sinn bestens weiterverwalten“ (Purschke 8.12.2013). Der frühere DDR-Biathlet Jürgen Wirth sagte in der ARD: “Ullrich hat uns damals angewiesen, dieses Mittel Oral-Turinabol einzunehmen” (Hahn 11.2.2014).
Fazit von Anno Hecker in der FAZ
„Man kann niemandem mehr trauen. Eine Überraschung kann der positive Doping-Test in der deutschen Mannschaft nicht sein. (…) Die jüngste Entdeckung, sosehr sie ein Einzelfall inmitten Hunderter negativer Proben ist, taugt nicht als Beweis für die Sauberkeit aller anderen Starter. Dazu sind zu viele kaum entdeckbare Substanzen, zu viele Betrüger mit einem komfortablen Vorsprung vor den Fahndern im Rennen. Auch deshalb wirken die Beteuerungen des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), man werde die Doper fassen, unglaubwürdig. Vermutungen, die Organisation nutze nicht immer alle Nachweisverfahren, nähren den Verdacht: Die Herren der Ringe haben kein besonderes Interesse, den Wert ihrer lukrativen Veranstaltung in Frage zu stellen. Der Interessenkonflikt ist zu groß“ (Hecker 21.2.2014b).
Kommentar von Claudio Catuogno in der SZ
„Weggesperrte Umweltschützer, zwangsumgesiedelte Anwohner, ausgebeutete Bauarbeiter, gefälschte Fernsehbilder, homophobe Gesetzgebung, Propaganda. Die Spiele von Sotschi hatten viele unerfreuliche Aspekte.(…) Die Aufregung hatte aber einen fürs IOC angenehmen Nebeneffekt. Um ein Haar wäre angesichts all der berechtigten Empörung über Trauerflor-Verbote und Putin-Kungelei ein weiteres Übel arg in den Hintergrund gerückt. Eines, das man nach der Schlussfeier am Sonntag nicht einfach in Sotschi zurücklassen kann wie planierte Berge oder Aktivisten in Lagerhaft. Eines, das den modernen Leistungssport von innen heraus zerfrisst. Doping eben. (…) Wenn Evi Sachenbacher-Stehle nun über einen verunreinigten Energieriegel oder ähnliches stolpert, sieht das wie ein Erfolg fürs Testsystem aus. Wie ein dummer Einzelfall. Verunreinigte Energieriegel sind aber nicht die Art von Doping, die man immer mitdenken muss, wenn man sich mit den olympischen Extremleistern befasst. Mit den russischen, weißrussischen, amerikanischen, deutschen und so weiter“ (Catuogno 22.2.2014).
Anti-Doping-Gesetz kommt doch
Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) tritt nun auch für ein schärferes Anti-Doping-Gesetz ein; darin soll endlich auch der Besitz geringer Mengen an Dopingmitteln unter Strafe gestellt werden. „Dopern und Ärzten sollen bis zu fünf Jahren Haft drohen“ (Kistner 21.2.2014). Maas will dies zusammen mit den Bundesländern noch im Jahr 2014 auf den Weg bringen. „Seit fast zehn Jahren kämpft der Sport gegen diesen Schritt. Er muss wohl dazu gezwungen werden“ (Hecker 21.2.2014a).
Dopingforscher Prof. Perikles Simon äußerte zum tatsächlichen Dopingstand in Sotschi 2014: „Fünf positive Fälle bei über 2500 Tests, damit bewegen wir uns im Promillebereich, das steht im scheinbaren Widerspruch zu den Erkenntnissen der empirischen Sozialforschung der letzten 40 Jahre, die belegt, dass zwischen 15 und 78 Prozent der Hochleistungssportler in der Vorbereitung auf Spitzensportereignisse dopen“ (Schicklinski 25.02.2014).
Quellen:
Achtung! Falle! in SZ 24.2.2014
Ahrens, Peter
– Comeback einer Affäre, in spiegelonline 21.2.2014a
– Schuld und Sühne, in spiegelonline 21.2.2014b
Aumüller, Johannes, Kistner, Thomas
– Verschwunden von der Liste des Mentaltrainers, in sueddeutsche.de 23.2.2014
– Verdacht verdichtet, in SZ 1.3.2014
Catuogno, Claudio, Klammern an die Illusion, in SZ 22.2.2014
Deutsche Biathletin Sachenbacher-Stehle positiv getestet, in spiegelonline 21,2.2104b
Eberle, Lukas, Großekathöfer, Maik, Hacke, Detlef, Ludwig, Udo, Pfeil, Gerhard, Game over, in Der Spiegel 32/5.8.2013
Gödecke, Christian, Verunreinigt, nicht sauber, in spiegelonline 22.2.2014
Hahn, Thomas, Unbewusst verdrängt, in SZ 11.2.2014
Hausdurchsuchungen bei Biathletin Sachenbacher-Stehle, in spiegelonline 22.2.2014a
Hecker, Anno
– Die Ärzte sollen reden, in faz.net 21.2.2014a
– Die Schatten von Sotschi, in faz.net 21.2.2014b
Kistner, Thomas
– Wende zum Schlechten, in sueddeutsche.de 21.2.2014
– Justizminister droht mit Gefängnis, in SZ 22.2.2014
– Mysteriöser Zettelmann gesucht, in SZ 25.2.2014
Küpper, Moritz, „Sie könnte es auch bewusst genommen haben“, Gespräch mit Hajo Seppelt, in deutschlandfunk.de 22.2.2014
Peschke, Sara, Der sonderbare Mentaltrainer aus Bad Tölz, in spiegelonline 27.2.2014
Peschke, Sara, Kuhrt, Nicola, Gefährliche Nahrung, in spiegelonline 24.2.2014
Purschke, Thomas, Alfons Hörmann ist neuer Präsident, in taz 8.12.2013
Razzia in Ruhpolding, in br.de 22.2.2014
Sachenbacher-Stehle verspricht „lückenlose Aufklärung“, in spiegelonline 23.2.2014
Schicklinski, Johann, Dopingforscher Simon fordert personelle Konsequenzen, in t-online 25.02.2014
Verlockendes, gefährliches Methylhexanamin, in spiegelonline 22.2.2014b